{"id":9645,"date":"2020-12-04T13:51:40","date_gmt":"2020-12-04T12:51:40","guid":{"rendered":"https:\/\/www.bayerische-chemieverbaende.de\/?p=9645"},"modified":"2023-01-13T10:34:21","modified_gmt":"2023-01-13T09:34:21","slug":"eu-chemikalienstrategie-sicher-und-nachhaltig-auf-dem-holzweg","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.bayerische-chemieverbaende.de\/eu-chemikalienstrategie-sicher-und-nachhaltig-auf-dem-holzweg\/","title":{"rendered":"EU-Chemikalienstrategie \u2013 sicher und nachhaltig auf dem Holzweg?"},"content":{"rendered":"

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EU-Chemikalienstrategie \u2013 sicher und nachhaltig auf dem Holzweg?<\/h1>\n

Die EU-Kommission hat im Oktober 2020 ihre \u201eChemikalienstrategie f\u00fcr Nachhaltigkeit<\/span><\/strong><\/a>\u201c<\/span> (CSS) ver\u00f6ffentlicht. Mit zahlreichen Ma\u00dfnahmen zum Gesundheits- und Umweltschutz ist sie Teil des Green Deals. Die Umsetzung wird weitreichende Folgen haben: Die europ\u00e4ische Chemikalienverordnung REACH, die CLP<\/abbr>-Verordnung sowie viele andere Vorschriften sollen ge\u00e4ndert und versch\u00e4rft werden. Eine regelrechte Regulierungslawine rollt auf die Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie zu – inmitten einer bislang beispiellosen Wirtschaftskrise.<\/p>\n

[cl-popup title=“Wichtige Inhalte der Chemikalienstrategie“ btn_label=“WICHTIGE INHALTE DER EU-CHEMIKALIENSTRATEGIE“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]<\/p>\n

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\"Vorsicht

Die Chemikalienstrategie ist vom Vorsorgeprinzip und einem Regulierungsansatz gepr\u00e4gt, der sehr stark auf den gef\u00e4hrlichen Eigenschaften von Chemikalien basiert und die Bedingungen einer trotzdem m\u00f6glichen und sicheren Verwendung au\u00dfer Acht l\u00e4sst.<\/p><\/div>\n

Die EU-Kommission plant neue Datenanforderungen, Verwendungsbeschr\u00e4nkungen und eine umfassende Regulierung von Stoffgruppen mit bestimmten Eigenschaften (z. B. Persistenz, Mobilit\u00e4t, endokrine Disruptoren). Ein Legislativvorschlag zur \u00c4nderung von REACH soll 2022 vorliegen. Beschr\u00e4nkungen von Chemikalien in Verbraucherprodukten und eventuell auch in professionellen Verwendungen sollen k\u00fcnftig oft ohne vorherige Risikobewertung und Konsultation der Hersteller im Schnellverfahren erfolgen. Bestimmte Polymere sollen registrierungspflichtig werden. Gepr\u00fcft wird auch die Einf\u00fchrung eines Bewertungsfaktors f\u00fcr Gemische hinsichtlich m\u00f6glicher Kombinationseffekte von Stoffen.<\/p>\n

Unter CLP<\/abbr> sollen mehrere neue Gefahrenklassen eingef\u00fchrt werden, teilweise unabh\u00e4ngig davon, ob es sich tats\u00e4chlich um Gefahrenmerkmale handelt. Die Chemikalienstrategie f\u00fchrt auch neue Begriffe ein wie \u201esichere und nachhaltige Chemikalien\u201c, \u201ebedenkliche Stoffe\u201c oder \u201eessentielle Verwendungen\u201c.<\/p>\n

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Mit einer neuen \u201eHierarchie der Schadstofffreiheit\u201c soll der \u201e\u00dcbergang zu inh\u00e4rent sicheren Chemikalien\u201c geschaffen werden. Die Chemikalienstrategie setzt dabei auf einen st\u00e4rker gefahrenbasierten Regulierungsmechanismus. Hat eine Chemikalie bestimmte Gefahreneigenschaften, so soll es zuk\u00fcnftig schneller m\u00f6glich sein, die Produktion und Verwendung zu verbieten \u2013 ohne vertiefte Pr\u00fcfung, ob tats\u00e4chlich ein Risiko f\u00fcr Exposition besteht.<\/p>\n

Ein solcher Ansatz l\u00e4sst allerdings au\u00dfer Acht, dass es einen \u00dcbergang zu \u201einh\u00e4rent sicheren Chemikalien\u201c im Wortsinn nicht geben kann. Denn, ob eine Chemikalie sicher und nachhaltig ist, kann eigentlich nur anhand deren Verwendung bewertet werden \u2013 und nicht als stoffinh\u00e4rente Eigenschaft.<\/p>\n

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[cl-popup title=“Ist Wasser, Kochsalz oder Chlor inh\u00e4rent sicher und nachhaltig?“ btn_label=“IST WASSER, KOCHSALZ ODER CHLOR INH\u00c4RENT SICHER UND NACHHALTIG?“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]<\/p>\n

Ein einfaches Beispiel ist Wasser. Wasser ist eine Verbindung, die extrem persistent, also best\u00e4ndig ist und nicht leicht\/gar nicht abgebaut wird. Auch ist Wasser sehr mobil \u2013 es kann leicht die Grenzen der Umweltkompartimente \u00fcberschreiten. Nach der Chemikalienstrategie sollen die Eigenschaften Persistenz und Mobilit\u00e4t aber bald als Gefahreneigenschaften eingef\u00fchrt werden \u2013 und sogar als Kriterien f\u00fcr die Identifizierung besonders besorgniserregender Stoffe gelten. (Im \u00dcbrigen kann der Genuss von Wasser in Reinform auch gesundheitsgef\u00e4hrdend sein, da hierdurch dem K\u00f6rper wichtige Elektrolyte entzogen werden. Auch in zu gro\u00dfen Mengen ist Wasser nicht gesund.)<\/p>\n

Ein anderes Beispiel ist Kochsalz. Auch hier greifen die Kriterien der Persistenz und Mobilit\u00e4t. Zudem gibt es den Verdacht, dass Kochsalz f\u00fcr Bluthochdruck verantwortlich ist \u2013 m\u00f6glicherweise also ein endokriner Disruptor (ED)? Nach der CSS w\u00e4ren ED-Eigenschaften jedenfalls m\u00f6glicherweise bald ein SVHC-Kriterium und eine eigene CLP<\/abbr>-Gefahrstoffkategorie.<\/p>\n

W\u00e4re Wasser oder Kochsalz also bald gar verboten? Nat\u00fcrlich ein v\u00f6llig absurder Gedanke \u2013 der aber das offensichtliche Problem eines rein gefahrenbasierten Ansatzes aufzeigt. Selbstverst\u00e4ndlich kann Wasser und Kochsalz v\u00f6llig gefahrlos verwendet werden. Aber es kommt eben auch auf die sichere Verwendung an! Wasser als Schwimmmedium zu \u201everwenden\u201c ist halbwegs sicher, wenn man schwimmen kann \u2013 wenn nicht, eher weniger. Die ma\u00dfvolle Verwendung von Kochsalz zum W\u00fcrzen von Speisen ist sicher \u2013 der l\u00f6ffelweise Verzehr kann sogar t\u00f6dlich enden. Vor allem zeigt es aber klar: Persistenz an sich ist noch nicht einmal eine Gefahr.<\/p>\n

Aber sind Wasser und Salz nachhaltige Chemikalien? Die Verwendung von Wasser als Waschmedium dient der Hygiene und damit dem Gesundheitsschutz \u2013 sicher nachhaltig. Die Verwendung in der Wasserpistole vielleicht nicht so. Kochsalz als Gew\u00fcrz \u2013 schwierig zu sagen. Im Winter zur Enteisung \u2013 vielleicht, weil man damit Unf\u00e4lle verhindert\u2026aber was ist mit Eintr\u00e4gen in B\u00f6den und Oberfl\u00e4chengew\u00e4sser (Salzfrachten)\u2026?<\/p>\n

Wie man es dreht und wendet – es ist immer die Verwendung die nachhaltig oder nicht nachhaltig ist, nie der Stoff an sich. Wasser ist weder nachhaltig noch nicht nachhaltig und man kann nichts \u00fcber das Risiko von Wasser sagen, ohne die Verwendung zu kennen.<\/p>\n

Betrachten wir ein etwas \u201echemischeres Beispiel\u201c: Chlor. Chlor ist unzweifelhaft eine sehr gef\u00e4hrliche Verbindung \u2013 beim Einatmen giftig. Auch braucht man f\u00fcr die Herstellung von Chlor durch Elektrolyse sehr viel Energie \u2013 sicherlich nicht nachhaltig, oder? Wenn man nun aber betrachtet, dass man Solarzellen nicht ohne die Verwendung von Chlor herstellen kann und wei\u00df, dass es sehr wohl m\u00f6glich ist, Chlor sicher zu handhaben\u2026wie bewertet man die Situation dann?<\/p>\n

All diese Beispiele zeigen, dass es eben immer wichtig ist, die Verwendung von Chemikalien zu betrachten und alle Dimensionen der Nachhaltigkeit \u2013 \u00d6kologie, \u00d6konomie und Soziales \u2013 ber\u00fccksichtigt.<\/p>\n

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\"Herstellung

Die Herstellung von Solarzellen ist nur mit Chlor m\u00f6glich – eine gef\u00e4hrliche Chemikalie, aber deswegen nicht weniger nachhaltig!<\/p><\/div>\n

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Das Ziel der schadstofffreien Umwelt kann in diesem Kontext nur dann unterst\u00fctzt werden, wenn damit gemeint ist, dass eine sichere und nachhaltige Verwendung von Chemikalien<\/em> gew\u00e4hrleistet wird, negative Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt minimiert werden sowie eine Identifizierung und das Management inakzeptabler Risiken erfolgt (was im Einzelfall auch ein Verwendungsverbot nat\u00fcrlich nicht ausschlie\u00dft!). Man muss hierzu aber eben den gesamten Lebenszyklus von Chemikalien im Auge haben, Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachten und Regulierungsentscheidungen auf Basis von sorgf\u00e4ltigen Risikobewertungen treffen.<\/p>\n

Es ist hingegen h\u00f6chst unwissenschaftlich, sachlich falsch und grenzt an Populismus, wenn man mit dem politisch gef\u00e4lligen Framing einer \u201eschadstofffreien Umwelt\u201c der \u00d6ffentlichkeit f\u00e4lschlicherweise suggeriert, man k\u00f6nne einen modernen und nachhaltigen Lebensstandard ohne jegliche gef\u00e4hrliche Chemikalien bestreiten (siehe die o.g. Verkn\u00fcpfung von Chlor\/Solarzellen).<\/p>\n

[cl-popup title=“Gefahr + Exposition = Risiko“ btn_label=“Gefahr + Exposition = Risiko“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]<\/p>\n

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\"\"<\/p>\n

Was ist der Unterschied zwischen Gefahr<\/strong> (engl. hazard) und Risiko <\/strong>(engl. risk)? Vielleicht w\u00e4re statt Gefahr das Wort „Gef\u00e4hrlichkeit“ treffender, aber \u00fcblicherweise bezeichnet man mit Gefahr eine Eigenschaft. Ein L\u00f6we stellt eine Gefahr dar. Das Risiko von einem L\u00f6wen gebissen zu werden, hat man aber nur, wenn man sich in die N\u00e4he von einem L\u00f6wen begibt und ihn \u00e4rgert – wenn man der Gefahr auch ausgesetzt ist. Das ist die Exposition<\/strong> (engl. exposure). In Deutschland ist das Risoko von einem L\u00f6wen gebissen zu werden gering. Die Exposition gegen\u00fcber Hauskatzen ist deutlich h\u00f6her – die sind aber nicht gef\u00e4hrlich.<\/p>\n

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Die chemisch-pharmazeutische Industrie nennt sich selbstbewusst auch #L\u00f6sungsindustrie<\/span><\/strong><\/a> \u2013 denn wie u.a. Grundstoffe f\u00fcr Solarzellen, Werkstoffe f\u00fcr Windr\u00e4der, Materialien f\u00fcr Stromspeichertechnologien oder neue Verfahren zum chemischen Recycling zeigen, sind chemische Erzeugnisse und Verfahren essentiell f\u00fcr Klimaschutz<\/span><\/strong><\/a>, Kreislaufwirtschaft<\/span><\/strong><\/span><\/a> oder um andere brennende Nachhaltigkeitsfragen zu l\u00f6sen. Daf\u00fcr braucht es aber eine Vielfalt an Chemikalien mit unterschiedlichen Reaktivit\u00e4ten (was in der Regel auch Gefahrstoffeigenschaften einschlie\u00dfen kann), die nicht einfach undifferenziert, rein gefahrenbasiert in \u201eGut\u201c und \u201eB\u00f6se\u201c eingeteilt werden k\u00f6nnen. Denn Nachhaltigkeit und gef\u00e4hrliche Chemikalien schlie\u00dfen sich nicht aus \u2013 oftmals bedingen sie sich sogar.<\/p>\n

Mit der Ausgestaltung der EU-Chemikalienstrategie steht die europ\u00e4ische Chemie an einem Scheideweg. Sollte die Chemikalienstrategie unver\u00e4ndert umgesetzt werden, wird sich die Zahl verf\u00fcgbarer Chemikalien in Europa deutlich verringern. Gleichzeitig wird der Erf\u00fcllungsaufwand f\u00fcr regulatorische Pflichten stark steigen. Dies wird einen enormen Einfluss auf Investitionen und Innovationen haben und dar\u00fcber entscheiden, ob die L\u00f6sungen der chemisch-pharmazeutischen Industrie zuk\u00fcnftig aus Europa oder aus L\u00e4ndern mit (schon heute) weniger hohen Umweltstandards kommen werden. Denn die Kommission stellt selbst in der CSS fest, dass die EU bereits einen der umfassendsten und sichersten Regulierungsrahmen f\u00fcr Chemikalien hat, der sich weltweit auf die fortschrittlichste Wissensbasis st\u00fctzt und ein weltweites Modell f\u00fcr Sicherheitsstandards setzt. Die Ziele des Green Deals w\u00e4ren also auch mit dem bestehenden Rechtsrahmen zu erreichen.<\/p>\n