Gemeinsame Pressemitteilung: „Allianz pro Brückenstrompreis“
21. August 2023Deindustrialisierung stoppen!
28. August 2023Wir müssen aufpassen – sonst droht ein Abstieg in die 4. Liga
Industriepolitik in der Wendezeit
Was ist eigentlich los mit Deutschland? Wir waren erst das Land der Dichter und Denker. Es wurde viel geschrieben, gedacht, auch erfunden. Später sind wir für die Chemie und die Ingenieurskunst berühmt geworden. Beides war Motor für eine einzigartige wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem „Wirtschaftswunder“ sogar einen Namen bekommen hat. Die Haupttugenden waren Wissenschaft, Innovation, Optimierung, Exzellenz im synergistischen Kreislauf.
Aber die Deutschen waren auch Romantiker – und sind es noch oder eben wieder. Im Moment scheint die ganze Nation der romantischen Vorstellung hinterherzulaufen, dass, wenn wir nur alles Mögliche tun, um die deutschen CO2-Emissionen auf netto Null zu senken, dann wäre die Gefahr aus dem Klimawandel gebannt.
Dass die beabsichtigte Transformation aber auch wirtschaftlich gestemmt werden muss und dass es daher oberste Aufgabe sein sollte, den Hauptplayern der Transformation in der Wirtschaft die nötigen Rahmenbedingungen zu gewähren, das wird in romantischer Verklärung ignoriert. Die Zeiten haben sich offenbar gewendet. Die deutsche Romantik ist zurück.
WIR ERLEBEN EINE ZEITENWENDE.
„Wir erleben eine Zeitenwende!“ – Dieser vielzitierte Ausspruch des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung von 27.02.2022 anlässlich des russischen Einmarsches in die Ukraine ist also aktueller denn je.
Und er scheint viele Bedeutungsebenen zu haben, auch wenn der Kanzler es vielleicht nicht so gemeint hatte. Seither sind nun fast eineinhalb Jahre vergangen – der schreckliche Krieg auf europäischem Boden wütet weiterhin und zunehmend werden die konkreten Auswirkungen dieser „Zeitenwende“ immer deutlicher. Und sie strahlen in weit mehr Bereiche hinein als allein die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr oder die Energiepreisbremse. Und trotz der Erkenntnis einer „Zeitenwende“, dauert die „Wendezeit“ als Reaktion auf diese neuen Herausforderungen viel zu lange oder lässt gar ganz auf sich warten.
Sowohl beim Klimaschutz als auch in der Wirtschaftspolitik geht es eigentlich – nach zwischenzeitlichen pragmatischen Lichtblicken wie den LNG-Terminals und dem Anwerfen bereits abgeschalteter Kohlekraftwerke – weiter, wie bisher: Atomausstieg, Heizungsverbote und Bürokratieexzesse wie bei den Energiepreisbremsen. Die anfängliche Hoffnung, eine Regierung aus Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen würde endlich eine Politik aus einem Guss unter Berücksichtigung aller Perspektiven und der wichtigsten Zielkonflikte realisieren, hat sich aufgelöst.
Viele Maßnahmen der Bundesregierung zerstören letztlich Volks- und Privateigentum (Atomausstieg, Kohleausstieg, Verbrenneraus) oder zwingen die Gesellschaft zu (teuren) Neuanschaffungen oder gestiegenen Kosten (Ausbau der Stromnetze, Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft, Verbot konventioneller Heizungen, Gebäudesanierung).
Das heißt, der Volkswirtschaft werden im großen Stil Mittel entzogen. Das Argument lautet, dass nur so der Klimawandel gestoppt werden kann. Aber das ist falsch. Deutschland kann den Klimawandel nicht stoppen. Dafür ist der Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen zu gering. Das wiederum ist natürlich kein Argument, den Klimaschutz nicht deutlich oder schnell voran zu bringen! Aber die Frage, welche finanziellen Ressourcen für Klimaschutz verwendet werden sollen, relativiert sich damit. Das Verhältnis von volkswirtschaftlichen Kosten und gesellschaftlichem Nutzen ist aus dem Gleichgewicht geraten. Und vor allem ist die fast pathologische Vorstellung, es müsse im Jahr 2045 oder gar 2040 geschafft sein, vor dem Hintergrund der Entwicklungen der CO2-Emissionen in Ländern wie China oder Indien geradezu absurd. Die dadurch massiv gestiegenen Kosten können in einer Zeit, in der auch die wirtschaftliche Entwicklung zu wünschen übriglässt, möglicherweise auch in einer Abwärtsspirale münden. Denn für Unternehmen bedeuten steigende Kosten auch immer schlechtere Wettbewerbsfähigkeit, und damit auch weniger Wertschöpfung und weniger Steueraufkommen. Die Anstrengungen zum Klimaschutz rauben dem Klimaschutz den Atem – Catch 22. Klimaschutz so schnell es geht! Ja! Aber eben nicht schneller als es geht. In diesem Sinne wäre es gut, die Kosten für die Industrie, z.B. für Strom, würden deutlich sinken. Denn dann nimmt die Elektrifizierung Fahrt auf. Die Genehmigungsverfahren müssten einfacher, schneller und rechtssicherer werden, denn das hilft bei Investitionsentscheidungen. Die Chemikalienregulierung und die immer weitere Verkomplizierung des Genehmigungsrechtes sollten eine Pause einlegen. Dann hätten die Unternehmen Planungssicherheit für transformatorische Investitionen.
Was doch geboten wäre, ist ein pragmatisches und vernünftiges, vor allem aber geordnetes und strategisches Vorgehen, um Deutschlands Abhängigkeit von fossilen Energieträgern – von CO2-behafteten Energieträgern – schrittweise und im Rahmen der Möglichkeiten zu reduzieren.
Denn wahr ist ja auch, dass der Schlüssel zur Resilienz und auch zu einer neuen wirtschaftlichen Stärke vermutlich in der klimaneutralen Transformation liegt. Es ist durchaus kein utopischer Gedanke, dass grüne Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen auch im Überfluss existieren könnte. Wahrscheinlich müssen bzw. können die Gestehungsanlagen dafür auch nicht alle in Deutschland stehen. Aber genug grüne Energie zu haben, ist ein mögliches Szenario. Und das wiederum wäre eine hervorragende Basis für eine starke Industrie und großen Wohlstand – ohne den negativen Umwelt-/Klima-Footprint.
Ein solches Gelingen der Transformation, die eine gestärkte, wettbewerbsfähige Industrie hervorbringt, ist auch der einzige Hebel, den Deutschland hat, da ansonsten diesem Modell niemand folgen wird! Zu glauben, dass man diesen Wandel, diese Wendezeit mit der Brechstange bis zu einem völlig frei gewählten Termin erzwingen kann, ist aber der falsche Weg.
INDUSTRIEPOLITIK ALS GEOPOLITISCHE NOTWENDIGKEIT
Der schreckliche russische Angriffskrieg in der Ukraine hat geopolitisch eine neue Ära eingeleitet. Eine komplexe Gemengelage, in der viele Spannungen neu oder erneut zu Tage treten. Insbesondere China macht einmal mehr die angestrebte Vormachtstellung im internationalen Konzert durch eine eigene Sicht auf die Situation in der Ukraine klar – und weitet die strategische Partnerschaft mit Russland eher aus. Auch eine einheitliche europäische Linie gegenüber dem Systemrivalen und wichtigen Handelspartner China scheint ferner denn je. Nicht einmal die Bundesregierung kann sich derzeit auf eine Chinastrategie einigen. Es scheint, dass Deutschland und Europa in dieser Zeitenwende immer noch einen geopolitischen Kompass suchen.
Derweil wäre es – neben der wichtigen Frage des Umgangs mit internationalen Partnern – mehr denn je angezeigt, auch den Blick auf die eigenen Stärken und Schwächen zu werfen. Es ist eine harte aber offensichtliche Realität – eine Wahrheit, ein Fakt, – dass die wirtschaftliche Stärke einer Weltregion maßgeblich über deren internationale Bedeutung entscheidet. Und hier verliert Europa derzeit massiv an Boden – die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, allen voran die Industrie, sind gerade in Deutschland so schlecht wie lange nicht mehr. Das ist nicht nur geostrategisch ein Problem, denn die Industrie ist bekanntermaßen die Basis unseres Wohlstands und damit auch unserer sozialen Sicherungssysteme und der gesellschaftlichen Teilhabe. Auch der Erfolg einer nachhaltigen Transformation hängt unmittelbar mit der industriellen Stärke zusammen. Nur eine vitale Industrie, die Gewinne erwirtschaftet und gute Rahmenbedingungen vorfindet, kann planungssicher in Transformationstechnologien investieren! Und hier ist die besondere Rolle der chemisch-pharmazeutischen Industrie hervorzuheben: Sie ist das Herz industrieller Wertschöpfung – etwa 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse benötigen in ihrem Entstehungsprozess Chemieprodukte. Und nicht selten macht eine Chemieinnovation den entscheidenden Unterschied bei der Veredelung.
Diese Schlüsselposition als „Industrie der Industrie“ macht die Branche zum Innovationstreiber. Das gilt ganz besonders für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, wie nachhaltige Transformation, Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft oder Gesundheitsschutz.
Es ist also höchste Zeit, dass der Wert einer starken Industrie und im Besonderen der chemisch-pharmazeutischen Industrie wieder in den Fokus politischen Handelns kommt. Deutschland und Europa müssen sich JETZT auf dem Weg machen, die Zeitenwende mit echter Industriepolitik zu gestalten! Und hier darf es keine Denkverbote mehr geben, Ideologien müssen zurückstehen und zuweilen auch Paradigmen hinterfragt werden. Entsprechende industriepolitische Vorstöße aus Frankreich zur Reindustrialisierung und Entwicklung von Zukunftstechnologien zeigen, dass einzelne EU-Mitgliedsstaaten die Brisanz verstanden haben und aktiv vorangehen!
Deutschland und Europa können derzeit weder unbürokratischen und effektiven Anreizprogrammen zur Industrieansiedlung á la US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) noch einer chinesischen Industriepolitik nach 5-Jahres-Plan etwas entgegensetzen. Die europäische Antwort auf solche Initiativen ist bislang: Bürokratie! In tausenden Seiten „Green Deal“-Regulierung versucht die EU-Kommission Nachhaltigkeit vor allem mit Verboten und Mikroregulierung zu verordnen. Hier braucht es dringend ein anderes Mindset, das Effizienz vor Bürokratie, Ordnungspolitik vor ordnungsrechtlicher Detailregulierung und vielleicht auch mal das 80:20-Prinzip vor eine 100-prozentig gerechte aber lähmende und ineffiziente Detailregelung stellt. Ein solcher Ansatz würde vermutlich auch die vielen Zielkonflikte verringern, die sich aus der europäischen Regelungswut ergeben – und vielleicht auch eine echte Strategie aus einem Guss zur Umsetzung der zumeist hochambitioniert formulierten Ziele zur Klimaneutralität oder der Stärkung europäischer Resilienz.
ENERGIEPOLITIK AM LIMIT
Die Politik hat insbesondere in Deutschland durch Abschalt- und Ausstiegsvorgaben massiv in den Strommarkt eingegriffen – ohne rechtzeitig für ausreichend Alternativen zu sorgen. Hinzu kommt, dass sich seit dem russischen Angriffskrieg auch an dieser Stelle eine Zeitenwende eingestellt hat. Hatte die deutsche Energiewende lange Zeit auf russisches Pipelinegas zur Überbrückung von Dunkelflauten gesetzt – hat sich diese Brückenstrategie auf dem Weg in eine rein regenerative Energiezukunft nun buchstäblich in Luft aufgelöst. Neuer Plan? Fehlanzeige!
Angelangt bei der harten Realität des LNG-Weltmarktniveaus sind nun die Strompreise völlig jenseits wichtiger Wettbewerbsregionen wie USA oder China, weil durch das Aus für viele andere Kraftwerke die Gaskraftwerke nun auch meist den Preis setzen. Die energieintensive Industrie hat bislang nicht einmal einen Hauch an Planungssicherheit, um in einem solchen volatilen Umfeld investieren zu können. Ganz besonders, weil man ja aus Klimaschutzgründen vordringlich auf primärenergetisch effiziente Prozesselektrifizierung umstellen und vielleicht sogar die Rohstoffe in Zukunft auf Strombasis herstellen muss – d.h. in Summe wird man also ein Vielfaches mehr an Strom benötigen. Ist der auch verfügbar?
Deshalb braucht die Industrie, braucht die Chemie- und Pharmaindustrie als energieintensive Branche JETZT dringend einen Transformationsstrompreis – nicht als Almosen oder Dauersubvention, sondern als zeitlich befristete Brücke bis der Markt wieder wettbewerbsfähige Preise liefert. Diese Forderung fällt uns als Industrieverband mit sozialmarktwirtschaftlichem Kompass nicht leicht. In der aktuellen Situation ist dieses Instrument nötig. Denn wettbewerbsfähige Strompreise sind Bedingung und Katalysator für die Transformation. Bis erneuerbare Energien im Überfluss vorhanden sind, brauchen energieintensive Unternehmen – vom KMU bis zum Großkonzern – diesen Industriestrompreis als stabile Brücke, damit vorher nicht „das Licht ausgeht.“ Deshalb ist es wichtig, dass das BMWK nun ein Arbeitspapier für einen solchen Brückenstrompreis vorgelegt hat. Das Konzept muss schnellstens in die Umsetzung finden und sich in der Detailausgestaltung vor allem daran messen lassen, dass das Ziel eines international wettbewerbsfähigen Industriestrompreis erreicht wird und in die Breite – also auch für KMU, auch für Chemieparks – wirkt.
Natürlich darf der Transformationsstrompreis keineswegs die einzige Maßnahme sein. Die regenerative Energieinfrastruktur – egal ob PV, Windkraft, Biomasse, Wasserkraft, Stromleitungen oder Wasserstoffstartnetz – muss jetzt mit maximaler Geschwindigkeit und ohne Wenn und Aber ausgebaut werden.
Gut zu sehen, dass mittlerweile sogar der Bayerische Ministerpräsident samt Wirtschaftsminister anreisen, wenn ein Übertragungsnetzbetreiber zum symbolischen Spatenstich für wenige km Stromtrasse einlädt. Gut zu sehen, dass diejenigen, die Begriffe wie „Monstertrassen“ salonfähig gemacht haben oder Wahlprogramme mit „nein zu Südlink, SüdostLink“ verabschiedet haben, – Seite an Seite – neue Stromleitungen feiern. Es ist gut, dass die Politik die Notwendigkeit für solche Infrastruktur endlich wieder mehr anerkennt und sichtbar unterstützt – auch hier sehen wir in gewisser Weise eine Zeitenwende. Und der Bedarf an Infrastruktur ist immens, wenn man die Klimaneutralität in Bayern bis 2040 erreichen möchte. Ein solches Überbordwerfen von ideologischen Grundsätzen hätte man sich auch bei der Kernkraft in Deutschland gewünscht. Es ist wenig nachvollziehbar, dass man inmitten einer Energiekrise diese Art der Energiegestehung – nach Jahrzenten des Betriebs – nicht für wenige Monate länger am Netz lässt – und stattdessen vermehrt Kohlekraftwerke hochfährt oder Atomstrom von EU-Nachbarländern importiert.
EUROPÄISCHE UMWELTPOLITIK - EIN DICKICHT AN ZIELKONFLIKTEN
Einen systemischen Befreiungsschlag ist auch bei einem anderen Dauerbrenner-Thema dringend geboten. In der Gesellschaft besteht ein klarer Konsens: In Deutschland geht es zu langsam voran. Lähmende und kaum noch beherrschbare Planungs- und Genehmigungsverfahren verzögern nicht nur fast jedes Großvorhaben, sondern legen auch zunehmend Routineverfahren lahm. Fast alle wollen schnellere Genehmigungsverfahren. Aber statt dieser Zielvorstellung im Sinne eines „think different“ endlich mit wirkungsvollen politischen Initiativen zu entgegen, verzettelt man sich im Klein-Klein. Und ganz besonders frustrierend ist es, dass man zwar einzelne Initiativen zur Verbesserung der Situation für die Energieinfrastruktur angegangen hat, die Industrie aber mit Ihren Anlagen für die Wertschöpfung „hinter“ den Strommasten und der PV-Anlagen buchstäblich am langen Arm verhungern lässt. Es gibt bislang kaum wirklich effektive Ansätze, um bei diesem Thema einen echten Schritt voran zu kommen. Und die EU-Kommission setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn bei der geplanten Revision der Industrieemissionsrichtlinie – der zentrale rechtliche Rahmen für die Industrieanlagenzulassung in der EU – wirklich jede einzelne geplante Maßnahme dazu führt, dass Verfahren noch komplexer werden. Egal ob bei der zukünftigen Grenzwertsetzung nach dem Stand der Technik, Vorgaben für Umweltmanagementsysteme oder auch Transformationspläne auf Anlagenebene – mehr Bürokratie, mehr Aufwand, mehr Gutachten und mehr Komplexität. Eine fast schon absurde Antwort auf das allseits gesellschaftlich gewünschte Ziel der Genehmigungsbeschleunigung – und sicher nicht im Sinne der Transformation.
Ein ähnlich absurdes Maß – ja fast schon schizophrene Züge – entwickelt das EU-Chemikalienrecht. Während die EU mit dem Chips Act verzweifelt versucht, die Resilienz bei der Halbleiterherstellung durch den Aufbau von europäischen Produktionsstandorten für diese wichtige Schlüsseltechnologie zu stärken, möchten Umweltbehörden von 5 Mitgliedsstaaten dafür unverzichtbare Werkstoffe in der EU verbieten – die Fluorpolymere. So wurde Anfang des Jahres ein bislang beispielloses REACH-Restriktionsverfahren für ein Totalverbot von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) aufgrund deren Persistenz, also Langlebigkeit, gestartet. Niemand wird bestreiten, dass Emissionen von persistenten Stoffen niedrigstmöglich sein müssen und gerade niedermolekulare PFAS Umweltrelevanz haben, die auch eine Regulierung rechtfertigt, ja sogar nötig macht. Daraus aber nun ein völlig undifferenziertes Pauschalverbot abzuleiten, ist nicht nur überzogen, sondern schlichtweg umwelt- und klimapolitischer Irrsinn. Der undifferenzierte Verbotsansatz der PFAS-Beschränkung würde Fluorpolymere als maßgebliche werkstoffliche Enabler für viele Hightech-Anwendungen – von Elektromobilität bis Wasserstoffwirtschaft – mindestens erschweren, wahrscheinlich aber unmöglich machen. Und dies, obwohl von diesen Kunststoffen gar kein Risiko ausgeht – sie genügen Kriterien für sichere Werkstoffe (PLC, Polymers of low concern, weitere Inforamtionen dazu siehe hier, hier oder hier).
Dass ein solches regulatorisches Umfeld nicht spurlos an Unternehmen vorbeigeht, wird anhand der geplanten Abwicklung des größten Fluorpolymerherstellers in Europa leider nun auch schon konkret fassbar. Das ist eine Tragödie für die Region – aber auch industriepolitisch ist es eine sehr kritische Entwicklung, wenn in Zukunft wichtige Werkstoffe für nachhaltige Anwendungen nicht mehr in Europa mit weltweit höchsten Umweltstandards (u.a. Investitionen in geschlossene Wasserkreisläufe und ein weltweit einzigartiges Verfahren zum Upcycling von Fluorpolymeren) produziert werden können. Damit steigt die Abhängigkeit von außereuropäischen Produzenten mit zumeist niedrigeren Umweltstandards – sollte die EU nicht wie geplant auch die Nutzung von Fluorpolymeren verbieten – und das Streben für mehr europäische Resilienz wird zur Farce.
Mit dem PFAS-Dossier wird auch erstmalig die Fehlentwicklung im Rahmen der EU-Chemikalienstrategie in ihrer ganzen Tragweite sichtbar. Diese Strategie wird ungeachtet medialer Aufmerksamkeit mit kaum verminderter inhaltlicher Härte umgesetzt. So wurden im Rahmen eines delegierten Rechtsaktes nahezu im Alleingang durch die EU-Kommission neue Gefahrenklassen in die CLP-Verordnung eingeführt. Diese neuen Gefahrenklassen sollen u.a. dazu dienen, Schnellrestriktionen für ganze Stoffgruppen anhand von Gefahrenmerkmalen (ggf. auch nur einzelner Vertreter der Gruppe, siehe PFAS-Restriktion) im Rahmen des generischen Risikomanagements (GRA) durchzuführen. Die Einführung des „GRA“ ist im Rahmen der REACH-Revision für Ende 2023 geplant. Durch die neuen Gefahrenklassen werden viele zusätzliche Substanzen zu Gefahrstoffen und so rücken auch weitere Stoffklassen ins Blickfeld der Regulatoren. Zudem bedeuten manche neue Gefahrenklassen keine Gefahr für Mensch und Natur im klassischen Sinne, teils basieren die Gefahrenmerkmale auch auf wenig robusten Kriterien (wie z.B. für Mobilität). Bei einem solchen undifferenzierten Regulierungsansatz allein auf Basis von Gefahrenmerkmalen können sich massive Verzerrungen und Brüche von ganzen Wertschöpfungsketten ergeben, weil sehr viele Substanzen auch ohne konkrete Evidenz eines Risikos für Mensch oder Natur verboten werden könnten.
Wenn dies mit einer Beweislastumkehr verbunden wird, also Unternehmen oder Anwender jeweils den Bedarf für eine Nutzung von Stoffen begründen müssen, damit ggf. eine Ausnahme von der Regulierung erfolgen kann, ohne dass es verlässliche Kriterien dafür gibt, dann wird damit ein dramatischer Schwund verfügbarerer Chemikalien und vor allem große Unsicherheit für Unternehmen einhergehen – mit deutlichen Folgen für Investitionen und Innovation. Denn die Produkte und Innovationen der Chemieindustrie sind die Rohstoff- und Technologiebasis sämtlicher industrieller Wertschöpfungsketten. Dünnt man diese Rohstoffbasis aus, wird der Lösungsraum der gesamten Wirtschaft massiv verkleinert und letztlich die nachhaltige Transformation konterkariert.
DROHT EIN ABSTIEG IN DIE 4. LIGA?
All diese regulatorischen Entwicklungen gehen nicht spurlos an der deutschen Industrie vorbei. Jüngst titelten zwei Industrieverbände mit vielen mittelständischen Mitgliedsunternehmen in diesem Kontext „… jetzt mal Klartext: Deutschland verabschiedet sich aus der 1. Liga“.
Man kann dabei nur warnen, diese Meldungen leichtfertig als typischen Pessimismus und Gejammer von Industrieverbänden abzutun. Das Fazit, dass sich Deutschland in einem Abstiegskampf befindet, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Meldungen von Unternehmen, die Standorte schließen oder Zukunftsinvestitionen nicht mehr am Standort Deutschland tätigen, Forschung in andere Weltregionen verlagern o.ä. häufen sich. Und Konzernstrategen internationaler Unternehmen bestätigen: „Kein Mensch investiert in Deutschland“. Es ist „5 nach 12“ und dringend Zeit zu handeln – die Zeitenwende muss jetzt endlich auch in der Industriepolitik ankommen!
Dieses sowie weitere interessante Themen finden Sie in unserem aktuellen Jahresbericht.
Bildnachweis: Jahresbericht der Bayerischen Chemieverbände; istock-Account der Bayerischen Chemieverbände (die Einzelnachweise/Nummern können bei Bedarf erfragt werden).